Rauenthaler Traditionsverein e.V.
Rauenthaler Traditionsverein e.V.

Abenteuer Heimatpflege

Auf der Suche nach der Geburtsurkunde Rauenthals
- ein Bericht von Stadtarchivar Ullrich Quetscher -

 

 

Am 25. März 2024 wird Rauenthal 750 Jahre alt... oder?

 

Was steht denn nun drin in diesem Dokument, dass der Historiker Siegfried Lehmann in seiner Schrift Rauenthal – Chronik eines Rheingauer Weinbaudorfes 1225 - 1975 abgedruckt hat und wie kommt er auf das Jahr 1225 als Gründungsjahr und nicht auf den 25. März 1274, mit dem dieses Dokument unterzeichnet wurde? Zur Erläuterung des Datums in der langgezogenen letzten Zeile: Anno Domini Mo (Millesimo) CC LXXIIII , VIII. Kalendas Aprilis bedeutet: Im Jahre des Herrn 1274, an den 8. Kalenden des April. Kalenden nannten die Römer den ersten Tag jeden Monats. Hiervon sind nun 8 Tage zurückzurechnen, was den 25. März 1274 nach Julianischer, heutiger Zeitrechnung ergibt und den 1. April nach Gregorianischem Kalender.

Lehmann hatte seine Chronik 1976 erstellt, anlässlich der Gebietsreform im Rheingau im folgenden Jahr und wünschte den bis dahin selbständigen Rauenthalern sicher ein rundes Jubiläum. Leider halten die übrigen und vor allem älteren Quellen, die Siegfried Lehmann in seiner Chronik anführt, um auf das Jahr 1225 zu kommen, einer kritischen Überprüfung nicht stand. Die Erwähnung eines Rudolfo von Ruendal in den Oculus memorie, einem Besitzstandsverzeichnis des Klosters Eberbach, das Lehmann auf 1228 datiert und später dann auf 1225, bezieht sich nicht auf einen Rudolf von Rauenthal, sondern vielmehr auf einen Ort Reuenthal im Odenwald in der Nähe von Weiterstadt. Ein hervorragender Kenner der Geschichte des Klosters Eberbach, Dr. h. c. Wolfgang Riedel, bestätigte auf Nachfrage, dass im Oculus aus dem Jahre 1211 an keiner Stelle das Dorf Rauenthal erwähnt wird, allerdings ist hier zum ersten Mal der Rotenberg und damit der älteste Rauenthaler Weinberg aufgeführt. Auch die Datierung einer weiteren Urkunde, zunächst irrtümlich auf das Jahr 1225, in der ein Schultheiß von Rauenthal erwähnt wird, stammt aus dem 1. Drittel des 14. Jahrhunderts, übrigens nach Angaben von Lehmann selbst an anderer Stelle. Die 1976 eigens angefertigte Bronzetafel am Rauenthaler Rathaus „1225 – 1275 Zur Erinnerung an 750 Schicksalsjahre der selbständigen Weinbaugemeinde“ entspricht folglich leider nicht den historischen Tatsachen.

Bemerkenswert ist zunächst, dass in diesem Schreiben in der achten Zeile, also bereits bei seiner ersten Nennung das Dorf Ruindal also Rauenthal heißt, obwohl diese Ansiedlung doch der höchstgelegene Weinbauort des Rheingaus ist. Viele, teils recht abwegige, Erklärungen finden sich für das -thal, das auf einem Berg liegt. Zwei dieser Erklärungen erscheinen jedoch nachvollziehbar: Ein Blick auf die Tektonik zeigt, dass sich der Rauenthaler Berg, zwischen zwei Tälern erhebt, westlich verlaufen das Sülzbachtal und der Große Buchwaldgraben und östlich das Walluftal. Im Mittelalter müssen beide als wilde (=raue) Täler gegolten haben und so lag es nahe, den Berg zwischen diesen beiden rauen Tälern, als Rauenthaler Berg zu bezeichnen. Zunächst wurden die hier angelegten Weinberge ab dem 12. Jahrhundert von Eltville aus bewirtschaftet. Als es zu der ersten Ansiedlung auf der Ebene direkt nördlich der Bubenhäuser Höhe kam – übrigens einer der schönsten Aussichtspunkte im Rheingau -, hat man den Namen des Berges auf das entstehende Dorf übertragen. Die zweite Erklärung ist ebenfalls recht einleuchtend: Wenn man den Weg vom Taunuskamm über das Wanderwegekreuz Grüne Bank nimmt, so erscheint der Bergsattel, in dem die Kirche und der alte Ortskern Rauenthals liegen als ein Tal, das südlich wiederum zur Bubenhäuser Höhe ansteigt.

Nachdem die Herkunft des Namens nun geklärt ist, gilt es, sich dem weiteren Inhalt der Geburtsurkunde des Dorfes zu widmen. Der Abdruck dieses Schreibens in Lehmanns Chronik ist auf Grund der Verkleinerung absolut unleserlich, so dass zur geplanten Übersetzung eine lesbare Kopie beschafft werden musste.

Aufstellung des Mainzer Domkapitels über Erwerbungen des Erzbischofs Werner.

(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Würzburg)

Der Vorsitzende des Rauenthaler Traditionsvereins e. V., Herr Michael Klein, nahm Kontakt zum Staatsarchiv in Würzburg auf, dem derzeitigen Aufbewahrungsort des Dokuments, und erhielt von dort eine lesbare Version (s. oben) des Schreibens; der Verein finanzierte die Beschaffung. Wenig überraschend war beim ersten Blick die Feststellung, dass das Dokument in Latein verfasst war; aber nun erst die Schrift! Mit Unterstützung von Herrn Wolfgang Walch, der den Übersetzungsprozess mit Literaturrecherche und entsprechenden Hilfen begleitete, konnte die Schrift als Gotische Minuskel, einer üblichen Schriftform des 13. Jahrhunderts, identifiziert werden und mit Hilfe der Übertragung einzelner Buchstaben anhand von Buchstabentabellen bruchstückweise eine Transkription in unsere heutige, die lateinische Schrift erfolgen. Dabei stellte sich heraus, dass der Verfasser zudem noch mit sehr vielen, damals sicher üblichen, Abkürzungen gearbeitet hatte. Die Abkürzungen sind durch einen Strich über der betreffenden Silbe kenntlich gemacht und nicht wie heute üblich mit einem Punkt hinter der Abkürzung. Die Transkription wurde folglich zu einem recht mühsamen Prozess, immer wieder unterbrochen, um begleitende, vielleicht erklärende Literatur zu finden. Tatsächlich fand sich in einer Rezension der Lehmann‘schen Chronik in einem Klammerzusatz der Hinweis auf einen Artikel von Ernst Vogt in den Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins und in einem Anhang dieses Artikels wiederum, zur großen Freude und Überraschung, eine vollständige Übertragung des Schreibens aus den Gotischen Minuskeln in die lateinische Schrift.

 

Also jetzt nur noch den Text vom Lateinischen ins Deutsche übersetzen? Doch bald taten sich auch hier schon bald wieder neue Hürden auf. Wenn bei den Ortsnamen Lorecha noch leicht als Lorch zu erkennen war, so bedurfte es bei Hasemanneshusen doch schon etwas Fantasie, um auf Assmannshausen zu kommen. Aber sehr schnell wird deutlich, dass es in dem gesamten Schreiben um den Rückerwerb und Kauf von Dörfern, Burgen, Mühlen und Weinbergen im Rheingau geht und darüber hinaus um Pachtzinsen oder den Zehnten. Bei Begriffen wie z. B. solidos, nach modernem Lateinlexikon eine Goldmünze, musste es sich um eine abweichende Verwendung dieses Wortes handeln. Tatsächlich ist solidus (=Schilling) im Mittelalter eine Rechnungseinheit. Folglich war anzunehmen, dass auch weitere lateinische Wörter in einem anderen als dem im Schullatein üblichen Sinne verwendet wurden. Doch im Text tauchen auch Wörter auf, die zwar lateinisch aussehen, die es aber im Lateinischen überhaupt nicht gibt. Aus dem Zusammenhang wird jedoch langsam klar, dass es sich hier insbesondere um Mengenangaben handeln muss, bei denen das deutsche Wort in ein Lateinisches umgewandelt, also latinisiert wurde. So wird z. B. aus der Angabe triginta (=dreißig) maldra (=?) siliginis (=Roggen) deutlich, dass es sich hier wohl um das alte Maß Malter handeln muss; ebenso iugera für Joch, amas für Ohm usw..

 

Mit Unterstützung des Rauenthaler Historikers und Journalisten, Dr. Elmar Heinz, konnte eine erste, recht lesbare Rohübersetzung des Textkörpers angefertigt werden, aber ohne die einleitenden und abschließenden Sätze ganz zu entschlüsseln. Dieses vorläufige Ergebnis galt es nun von einem echten Experten prüfen und fertigzustellen zu lassen. Für diese Arbeit erklärte sich dankenswerter Weise Herr Archivoberrat a. D. Dr. Hartmut Heinemann bereit. Herr Dr. Heinemann, einer der Wenigen, die noch alte und sehr alte Schriften lesen können, fertigte nicht nur eine nun gesicherte Übersetzung aus dem Lateinischen an, sondern überprüfte darüber hinaus die von Ernst Vogt angefertigte Übertragung ins Lateinische. Jetzt liegt also erstmalig(!) eine korrekte und vollständige Übersetzung der Aufstellung vom 25. März 1274 des Mainzer Domkapitels über die vom Erzbischof Werner dem Besitzstand des Erzstifts hinzugefügten Güter vor.

 

Übrigens: Neben Rauenthal finden in diesem Schreiben auch die Rheingauer Orte Lorecha (Lorch), Hasemanneshusen (Assmannshausen), Rudensheim (Rüdesheim), Osterich (Oestrich), Eberbach (Erbach), Markenbornen (Markobrunn), Altam Villam (Eltville) und Waldaffen (Walluf) Erwähnung. Linksrheinisch sind Olmenam (Olm), Algensheim (Gaualgesheim) und Pinguie (Bingen) genannt. Des Weiteren werden aufgeführt: Gernsheim, Laurissa (Lorsch), Wildenberg und Amorbach, Bessenbach, Dipburg (Dieburg) und Hosten (Höchst) und zuletzt Nuenberg (Naumburg) und castrum Wedelberg (Weidelsburg).

 

Es gibt jedoch schon aus sehr viel älterer Zeit, also weit vor 1274, Besiedlungsspuren in der Rauenthaler Gemarkung. Anlässlich der ersten Anlage des Rauenthaler Waldsportplatzes stieß man auf mehrere keltische Grabhügel aus der Frühlatène-Zeit (450 – 250 v. Chr.). Außerdem führte eine alte römische Fernverbindung vom Rhein durch das Ortsgebiet des heutigen Rauenthal bis zum römischen Kastellort Kemel; folglich wäre ein Rastplatz oder Rasthaus nach der Überwindung des Rauenthaler Berges, etwa zwischen den heutigen Standorten von Kirche und Schule, durchaus naheliegend. Auch gibt es Hinweise, dass es in früheren Jahren eine Waldbewirtschaftung gab und dass eine Köhlersiedlung nördlich der heutigen Bebauung bestand.

Keltengräber am Rauenthaler Sportplatz

Trotz alledem, der Nachweis des Alters einer Stadt oder Gemeinde ist und bleibt die erste schriftliche Nennung in einem Dokument. Somit bleibt es bei dem Jahr 1274 für die erste urkundliche Erwähnung Rauenthals. Das würde bedeuten, dass die Jubiläumsfeier zum 750jährigen Bestehen Rauenthals im Jahr 2024 stattfindet und nicht eine 800-Jahrfeier im Jahr 2025.

In der achten Zeile des Dokuments ist zu lesen:

 

Item villam Ruindal redemit a relicta Nicolay de Sarpenstein

 

auf Deutsch:

 

Ebenso hat er [Erzbischof Werner] das Dorf Rauenthal von der Witwe des Nikolaus von Scharfenstein zurückgekauft.

 

Demnach hatte also vermutlich Nikolaus das Dorf zuvor ursprünglich als Lehen erhalten. Wenn dies zutrifft, dann muss Rauenthal logischer Weise bereits bestanden haben und weit vor 1274 gegründet worden sein. Nur wurde bisher (noch) keine Quelle gefunden, die dies auch bestätigt.

Doch wenn ein Lehen vergeben wurde, müsste dies ebenfalls in einer Urkunde schriftlich festgehalten sein oder vielleicht in einem Schreiben der Familie Scharfenstein.

 

Die Suche geht weiter!

 

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Und hier der vollständige Text der Urkunde von 1274 – inklusive Übersetzung usw.

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